Vom kleinen Vogel
Kurzgeschichte
1/1/2024
Höher und höher, weiter und weiter. Er spürte den Wind unter seinen Federn und sah auf die weite Welt hinaus. Er fühlte die Freiheit, die sich mit jedem Flügelschlag immer mehr in seinem kleinen Körper ausbreitete. Niemals hatte er sich träumen lassen, jemals fliegen zu könne. War er doch nur ein kleiner Vogel, abhängig von anderen und immer auf der Hut. Doch nun war er eins mit der Natur. Er schwebte durch die Lüfte und vergaß all die Zweifel, von denen er so lange geprägt gewesen war.
Er sah Wälder und Flüsse, Felder und Seen. Die warmen Sonnenstrahlen legten sie auf sein Gefieder und gaben ihm ein Gefühl von Wärme. Er war frei und fühlte sich dennoch so sicher wie nie.
Und da waren noch Bauten aus Stein, aus denen Rauch ausstieg. Komische Gestalten gingen ein und aus. Menschen sollen sie heißen, so kannte er es aus Erzählungen. Sein Bruder hatte ihm von ihnen erzählt - man solle sich fern halten, sie seien böse. Dabei sahen sie doch so friedlich aus. Sie waren sich alle irgendwie ähnlich und doch so verschieden. Dabei musste er an früher denken. Wie er sich mit seinen Geschwistern zankte, spielte und lachte. Und Mama saß mit ihrem strengen Blick daneben und wies sie immer wieder zurecht. Und doch konnte er in ihren Augen einen liebevollen, fürsorglichen Blick sehen; er wusste, sie würde immer für ihn da sein.
Mit großer Freude betrachtete er das rege Treiben der Menschen vor ihm. Besonders mochte er die kleinen, da sie sich so ungehemmt verhielten. Sie sind, um zu sein, dachte er sich.
Seine Flügel trugen den kleinen Vogel immer weiter. Er sah Dinge, die er bisher nur aus Erzählungen kannte und solche, von denen er nun erzählen würde. Er ließ sich treiben, vergaß Zeit und Ort. Und plötzlich sah er den Baum mit dem Nest, in dem er aufgewachsen war. Er hörte das Zwitschern, was er tag ein tag aus gehört hatte und spürte den Wind, der schon immer über seine Federn gestrichen war. Doch es war anders als sonst. Er war anders als sonst. Er hatte nämlich eine Entscheidung getroffen. Die Entscheidung, sein Leben zu leben. Es selbst in die Hand zu nehmen, es zu spüren, es auszukosten. Er machte sich frei.
Und mit diesem Gefühl flog er zurück in sein Nest und erzählte von den Abenteuern, die da draußen auf einen warten.
Und all dies begann mit einem einzelnen Flügelschlag.
